von Winfried Wolf (2018)
Quelle: https://www.hintergrund.de/allgemein/rundschau/das-grosse-schwarz-weiss/
Auszüge (mit eigenen Zwischenüberschriften):
Inhalt
Vergleich Regional- und Fernverkehr
[…] Im gesamten deutschen Schienenverkehr (DB und private Bahnen, wobei letztere nur im Nahverkehr von Bedeutung sind) werden derzeit jährlich 2,7 Milliarden Fahrgäste befördert. Im Fernverkehr (der neben den ICE-Garnituren auch alle IC-/ EC-Züge umfasst) sind es jedoch lediglich 133 Millionen. Das entspricht knapp 5 Prozent der gesamten jährlichen Fahrgastzahl. Die übrigen 95 Prozent oder 2,55 Milliarden Fahrgäste entfallen auf den Nahverkehr.[…] Lassen wir uns im Folgenden auf die Argumentation der Top-Verantwortlichen im Bahnkonzern ein, wonach ausschließlich Kilometerleistung und Einnahmen zählen. Von dieser Warte aus sieht die Rechnung wie folgt aus: Pro Jahr werden im deutschen Schienenverkehr rund 91,3 Milliarden Personenkilometer (Pkm = Fahrgäste multipliziert mit der zurückgelegten Kilometerentfernung) befördert. 54,4 Milliarden Pkm oder 59,6 Prozent entfallen dabei auf den Nahverkehr, 36,9 Milliarden Pkm oder 40,1 Prozent auf den Fernverkehr (auf den ICE entfallen sogar nur 24,4 Milliarden Pkm oder 27 Prozent der gesamten Verkehrsleistung).
Vergleichbares gilt auch für die Einnahmen: Von den gesamten Einnahmen im Schienennah- und -fernverkehr in Höhe von rund 20 Milliarden Euro entfallen nur rund vier Milliarden Euro auf den Fernverkehr.2 Gibt es also eine wachsende Bedeutung des Fernverkehrs im gesamten System Schiene? Das Gegenteil ist der Fall: Anfang der 1990er Jahre machten die im Fernverkehr zurückgelegten Personenkilometer noch rund 44 Prozent der gesamten Verkehrsleistung aus. Heute sind es knapp 4 Prozent weniger.
Welche Rolle spielt der Zeitgewinn?
Schauen wir uns eine typische Fernverkehrsfahrt an und fragen: Rechnet es sich, in größere Zeitgewinne bei sehr weiten Entfernungen zu investieren? Die Antwort lautet: nein. Denn im Fernverkehr liegt die durchschnittliche Reiseweite (die Entfernung je Fernverkehrsfahrt) bei 280 Kilometern. Es handelt sich also überwiegend um Fahrten, bei denen Top-Geschwindigkeiten und Neubaustrecken keine größere Rolle spielen, weil die damit erzielbaren Zeitgewinne im Bereich von lediglich fünf, zehn oder 15 Minuten liegen. Und auch im Fernverkehr stehen beim Durchschnittsfahrgast ganz andere Kriterien im Vordergrund: Ist der Zug pünktlich? Antwort: oft nicht. Habe ich faktisch eine Sitzplatzgarantie? Antwort: meist eher nicht. Ist der Reisekomfort akzeptabel? Antwort: Mit jeder neuen Zuggattung wurde die Beinfreiheit geringer. Ist der Preis für die Bahnfahrt akzeptabel? Antwort: Die normalen Bahnpreise werden generell als zu hoch empfunden; Tickets zum Schnäppchenpreis zu ergattern ist vielen zu lästig.
Hinzu kommt, dass mit den neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken fast immer wichtige Zentren mit potenziell hohem Fahrgastaufkommen vom Fernverkehrsnetz abgehängt werden. Bei der Strecke Hannover – Berlin trifft dies auf die beiden Landeshauptstädte Magdeburg und Potsdam zu, im Fall Frankfurt – Köln auf die Städte Bonn und Koblenz. Mit dem 10. Dezember 2017 verloren die Städte Weimar, Jena, Lichtenfels und Saalfeld ihre ICE-Verkehrshalte. […]
Fluggäste und Autofahrer als Bahnkunden gewinnen?
Streckeneröffnungsrituale wie im Fall Berlin – München werden in der Öffentlichkeit als Ausbau des Schienennetzes gefeiert. Im zitierten Blatt des DB-Konzerns wurde dies wie folgt präsentiert: „Für den Sohn eines Eisenbahners ist dies ein großer Tag. ‚Bei dieser Strecke komme ich ins Schwärmen‘, sagt Bahnchef Richard Lutz […]. ‚Mit der Eröffnung dieser Strecke machen wir einen Riesensprung nach vorn.‘“ Das DB-Magazin spricht von einer „historischen Dimension“. An anderer Stelle heißt es: „Die Bahn will mit der neuen Trasse Berlin – München Fluggäste und Autofahrer als Kunden gewinnen“ (Süddeutsche Zeitung vom 31. August 2017). Oder auch: „Die neue Schnelltrasse […] soll der Bahn helfen, wieder konkurrenzfähig zu werden“. (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juni 2017).
Bei all diesen Superlativen ging weitgehend unter, dass der Bahnkonzern die Ticketpreise für diese Strecke um 13,6 Prozent erhöhte (man könnte ja auch argumentieren: kürzere Fahrtzeit = geringerer Aufwand von Zuggarnituren und Personal = niedrigere Ticketpreise, zumal der Bau der Strecke zu 100 Prozent vom Bund bezahlt, der DB also geschenkt wurde). Mit der Inbetriebnahme wurden auch eine Reihe Verbindungen langsamer, zum Beispiel solche von Berlin nach Frankfurt/M. (Wegfall von Sprinterzügen). Bei dieser Verbindung gibt es sogar teilweise keinen Halt mehr in Frankfurt/M. Hauptbahnhof, sondern „nur“ in Frankfurt-Süd oder Frankfurt/M. Flughafen – was ebenfalls für viele mit Fahrtzeitverlängerungen verbunden ist.
Trotz Neubaustrecken: Abbau im gesamten Schienennetz
Vor allem aber fehlt bei all dem Jubel über „historische Dimensionen“ der Blick fürs Ganze. Im Jahr 1991, bei Inbetriebnahme der ersten Schnellbahnstrecke, hatte das Gesamtnetz im neu vereinigten Deutschland noch eine Länge von 41 100 Kilometern. Seither wurde das Schienennetz auf aktuell 33 390 Kilometer abgebaut – oder um 5 700 Kilometer Betriebslänge reduziert. Allein diese Kappung des Schienennetzes ist doppelt so groß wie das gesamte Hochgeschwindigkeitsnetz, das seither aufgebaut wurde. Oder auch: Diese Kappung ist fast viermal so groß wie die oben aufgeführten Neubaustrecken. Bezieht man sich auf die Kapazität des verbliebenen Netzes, dann ist die Bilanz noch betrüblicher: Seit 1994 wurden rund 30 Prozent aller Weichen, rund 50 Prozent aller Ausweichgleise und rund 80 Prozent aller Gleisanschlüsse („Industriegleise“) aus dem Netz entfernt. Elementare Dienstleistungen der Eisenbahn, die es mehr als ein Jahrhundert lang gegeben hatte, wurden eingestellt: der Postverkehr (seit 1995), der Stückgutverkehr (seit Ende der 1990er Jahre), die Interregio (seit 2001) und die Nachtzüge (seit 2016).
Allein dieser qualitative Abbau ist Ausdruck davon, dass die Investitionspolitik im Schienenbereich in Wirklichkeit mit einem Abbau von Schienen und mit einem Rückzug der Bahn vor allem aus der Fläche verbunden ist.